28.04. Bring mir das Licht
Heute stehen drei neue Passknackerpunkte auf dem Programm. Ich packe meine sieben Sachen, frühstücke auf der Dachterrasse und schwinge mich heute ausnahmsweise bergauf raus aus Granada. So vermeide ich eine Innenstadtdurchfahrt, und es geht erst nach ein paar Kurven auf die A-92. Der erste Pass heute ist der Puerto di Santillana, dazu geht’s südlich in die Berge, am östlichsten Zipfel der Sierra Nevada. Die Strecke kenne ich schon, denn hier liegt ein Dorf, das heißt fast genauso wie ich!

Die Kurvenstrecke von Ohanes nach Süden ist sensationell in jeder Hinsicht. Aussicht, Abwechselung, Herausforderung, Übersicht, Belag, es ist einfach alles Spitzenklasse! Mein Andalusien-Experte Rainer hatte die Strecke rein geplant bei unseren bisherigen Reisen, und jetzt ist da eben auch ein Passknackerpunkt. Sehr sehr feine Sache.

Weiter geht’s 32 km zum Puerto de Enix. Den kannte ich auch schon, da fährt man eine Bröselpiste an einem Steinbruch vorbei und oben hat man das Aussicht aufs Mittelmeer. Ideal für eine kleine Mittagspause. Mein Routenplaner wollte hier drüber fahren und dann einen Bogen auf der Autobahn um Almeria machen, aber kurviger dreht lieber um. Von mir aus, ist ja schön hier, und kürzer ist es auch.
Die Sonne scheint, die Yamaha fliegt übers Land, es ist wenig Betrieb und hier sehe ich öfters mal Photovoltaik-Anlagen und auch Windräder, sowohl im Tal, als auch an und auf den Bergen. Es ist auch sehr windig heute. Komischerweise drehen sich die Windräder alle nicht – naja, ist wohl gerade abgeregelt, weil sie den Strom nicht brauchen. Der letzte neue Punkt für mich heute heißt Colaviti. Ich passiere Tabernas. Der Ort ist überregional bekannt dafür, dass hier früher diverse „amerikanische“ Western-Filme gedreht wurden. Hier habe ich mit Rainer schon ein paar Nächte gewohnt, denn Tabernas ist auch eine gute Basis für die Region. Zum Colaviti selbst führen nur sehr schmale Straßen, wo noch weniger Betrieb als sonst ist – es kommt 45 Minuten absolut niemand. Es gibt sogar einen Wegweiser, da steht „Radar 1863 Meter“. Nein, das ist keine Verkehrsüberwachungsmaßnahme (wobei!), sondern eine große Sendeanlage.


Hier hat man fast in 270° das Meer am Horizont. So, jetzt noch zum Hotel. Ich will vorsichtshalber tanken, aber die Tankstelle hat anscheinend keinen Sprit. Kein Problem, hier ist ja Tabernas in der Nähe, das ist die größte Stadt der Region, da gibt’s noch mehr Tankstellen. Aber auch dort gibt’s es keinen Sprit. Ich verstehe nicht, wieso. Intensives Nachfragen mit Hand und Fuß und Translator führt zur Erkenntnis, dass das Problem ganz Spanien und Portugal betrifft. Ich bin verwirrt und recherchiere: Benzin-Boykott? Streik? Es ist nichts zu finden, wieder rein, Übersetzungsdienst dazu genommen, da sagt die Verkäuferin „Wir haben kein Licht!“ Ist der Antichrist schon da? Da dämmert es mir: Es ist ziemlich dunkel in dieser Tankstelle hier. Und die Kühlschränke sind auch dunkel. Und die Anzeigetafel, die ist auch dunkel. Und die Windräder drehen sich nicht, weil sie keine Netzfrequenz haben, auf die sich synchronisieren können. Ein veritabler Blackout, ein totaler, landesweiter Stromausfall! Ursache unklar. Da bin ich zufällig Experte, weil ich in verschiedenen Rollen seit bald 10 Jahren bei verschiedenen Netzbetreibern arbeiten. Daher hier ein Exkurs:
Ohne Strom laufen keine Pumpen, und ohne Pumpen kann die Tankstelle kein Benzin verkaufen. Notstromaggregate an Tankstellen sind keine Pflicht, auch in Deutschland nicht. Das würde die Tankstellenbetreiber ja Geld kosten, das kann man denen doch nicht vorschreiben. Stattdessen muss jeder, der im Fall eines Blackouts Sprit braucht, selbst welchen bunkern, und das schließt alle mit ein, die Notstromaggregate besitzen, also z.B. Krankenhäuser, alle mit Einsatzfahrzeugen wie Rettungsdienst, Polizei, Feuerwehr, Gasnotdienst und die Netzbetreiber selbst. Hier in Spanien fallen auch alle Züge aus, in Deutschland hat die Bahn ihr eigenes Stromnetz und sie könnte theoretisch weiter fahren, wobei in der Praxis sicher Abhängigkeiten bestehen.
Tja, da stehe ich nun und weiß nicht so recht, was zu tun. Bis zum Hotel wird es mit dem Sprit sehr sehr knapp. Den Blackout kann ich nicht beheben. Der Tankstelle Sprit abquatschen kann ich auch nicht. Die Entscheidung ist eigentlich nur weiterfahren, oder sofort eine Unterkunft suchen. Ich entscheide mich für weiterfahren, es ist ja erst 14 Uhr, vielleicht wird das Problem ja bald behoben. Allerdings fahre ich möglichst sparsam. Das Handynetz scheint noch zu halten.
Auch die Handynetzbetreiber haben keinerlei Zusagen dazu, wie lange ihr Netz hält, wenn der Strom ausfällt. Wer auf mobile Kommunikation angewiesen ist, muss sich entweder auf andere Techniken ausweichen oder sich selbst ein Mobilfunknetz bauen. Letzteres tun die deutschen Netzbetreiber gerade im Rahmen des Projekts „450 Mhz“. Ansonsten hat jeder wichtige Akteur Satellitentelefone und hofft, dass die nicht hoffnungslos überlastet sind, wenn es mal zu einem größeren Stromausfall kommt. Leitungswasser kommt normalerweise länger weiterhin aus der Leitung, weil den Wasserversorgern die Bedeutung von Trinkwasser klar ist. Darum stehen in den Wasserwerken sehr leistungsfähige Stromgeneratoren und dazugehörige Kraftstofftanks. In den meisten Städten reichen die Pumpen in den Wasserwerken aus, um das ganze Versorgungsgebiet mit ausreichend Druck zu versorgen.
Um über die Berge nördlich von Tabernas zu kommen, hat man mehrere Möglichkeiten. Eigentlich hatte ich den Collada García geplant, eine Ballerstrecke mit weiten Radien. Stellt euch die Schwarzwaldhochstraße als Rennstrecke vor. Die Alternative ist Alto de Velefique, die ist kürzer, dafür sind mehr Kehren drin. Ich wähle letzteres. Die Kurven sind ja schon richtig richtig schick, aber so richtig genießen kann ich es nicht.

Die Yamaha brummt im 3. und 5. Gang hoch. An der Passhöhe geht die Reservelampe an – das heißt, noch 55 km. Ich habe aber noch 70 km bis zum Hotel. Scheiße! Den Pass runter rolle ich dann ohne Motor, dann brauche ich auch keinen Sprit. Das geht einige Kilometer gut, es geht immer mal wieder etwas flach oder bergauf, da ist dann wieder kurz Schub gefragt. Bei der Ortsdurchfahrt von Velefique nehme ich ein offenes Restaurant wahr, und es stehen einige Motorräder davor. Stoooopp! Es wird sogar Essen serviert. Jetzt essen wäre eine Sorge weniger, dann muss ich nicht hoffen, abends irgendwo was zu bekommen, wo auch immer ich dann strande. Und die anderen Motorradfahrer geben mir vielleicht Benzin ab?
So gibt’s also einen Hamburger für mich, und ich komme etwas ins Gespräch mit 2 Briten, 2 Niederländern, und drei Russukrainern: Keiner hat's heute mehr weit, im Prinzip würde mir jeder helfen, und ich habe auch einen dünnen Schlauch dabei, allerdings hat der sich so an seine zusammengerollte Form in meinem erweiterten Bordwerkzeug im Tankrucksack gewöhnt, dass ich ihn nicht gerade genug in vier fremde verwinkelte Tanks eingeführt bekomme, um ans Benzin ranzukommen. Das hat durchaus schon funktioniert, als ich anderen geholfen habe, aber heute klappt's einfach nicht. Protipp: in den Schlauch pusten und auf Blubbern lauschen ist besser für die Lunge als Benzindämpfe ansaugen. Die rettende Idee ist dann, bei der alten Ducati Monster 600 eines Spenders den Schlauch vom deutlich sichtbaren Benzinhahn zu lösen. Da tröpfelt dann das Benzin hinaus, allerdings echt langsam. Nach 15 Minuten habe ich gerade mal 0,2 Liter, und die Gruppe will eigentlich schon länger aufbrechen. Da will ich dann die Höflichkeit nicht überstrapazieren. 0,2 Liter sind immerhin 4 km Reichweite... und 4 km will ich weder das Motorrad schieben, noch in der Sonne laufen. Ich bekomme noch den Tipp, dass die großen Tankstellen sicher Generatoren haben. Ich bin skeptisch. Ich nutze noch WC und Waschbecken im Restaurant, es ist zwar dunkel im Keller, aber die Handylampe leuchtet den Weg und eine Kerze steht am Pissoir. Der Wasserdruck ist auch noch da.
Zum nächsten Ort rolle ich so gut es geht. Tijola liegt am Tal, an einer Hauptstrecke. Ich riskiere 1,4 km Umweg zur Tankstelle im Ort. Diese hat leider auch keinen Strom und verkauft daher kein Benzin, aber immerhin Wasserflaschen. Da nehme ich doch 1,5 Liter mit, vorsichtshalber, wer weiß, wann es wieder was gibt. Die Verkäuferin hat den Tipp, dass die Tankstelle in Albox Benzin verkauft. Zu meinem Hotel in Baza sind es noch 40 km. Nach Albox 30 km, leider in die Gegenrichtung. Wenn ich dort nichts bekomme, bin ich richtig aufgeschmissen und muss versuchen, dort eine Bleibe zu finden. Wobei nicht gesagt ist, dass meine gebuchte Unterkunft in Baza überhaupt geöffnet ist. Ich entscheide mich für Baza, in der Hoffnung, dass der Sprit reicht, und dass morgen früh der Strom wieder da ist, so dass ich tanken und in Ruhe weiterfahren kann. Unterwegs halte ich an einer weiteren Tankstelle, aber auch diese verkauft kein Benzin. Auf der Strecke hier sind mir LKW aufgefallen. Da könnte man doch...? Bei der Ausfahrt warte ich also, bis ein LKW in meine Richtung kommt, und da hänge ich mich dann ganz dicht dran. Weniger Luftwiderstand ergibt weniger Verbrauch, ergibt mehr Reichweite, ergibt blahwas erreicht sein Hotel ohne liegen zu bleiben! Das klappt wirklich. Erste große Erleichterung.
Das Hotel hat tatsächlich geöffnet, innen brennt Licht und es laufen sogar Fernseher. Man hat einen Stromgenerator. Zweite große Erleichterung! Rein da, Gepäck geholt, aus Rücksicht auf den Dieselvorrat auf die große Dusche verzichtet und nur kalt feucht abgewischt. Kurz überlegt, rausgehen? Regel Nummer 1 beim Blackout: Nicht rausgehen! Das Handynetz wackelt bereits. Die Bevölkerung ist angehalten, nur in wirklich wichtigen Fällen den Notruf zu wählen. Ich kann mir schon denken, was passiert, wenn jeder 20. Spanier den Notruf wählt um zu fragen, wann der Strom wieder da ist. Und wenn das Handynetz weg ist, kann niemand mehr den Notruf wählen. Und weil der Strom weg ist gibt’s auch keine Kameras mehr und keine Alarmanlagen, und Beleuchtung sowieso nicht. Wenn das Kriminelle und sonstige Gewaltbereite kapiert haben, bleibt man besser daheim.
Aber noch ist die Stimmung gut, außer bei durchreisenden Touristen auf der Suche nach Sprit, daher wage ich einen Spaziergang zum Supermarkt. Nummer 1, Lidl, hat geschlossen. Nummer 2, deutlich größer, voller Parkplatz, im Vorbeigehen dröhnt ein Aggregat aus Lüftungsgittern in der Wand: Ah, hier bin ich richtig. Es ist nicht sonderlich voll. Die Türen öffnen, innen ist Licht, die Kassen laufen. Allerdings gab es wohl auch hier einen Zeitraum ohne Stromversorgung, denn die Kühlregale sind abgedeckt und werden gerade vom Personal ausgeräumt. Das ist konsequent. Mal sehen, was die Gastro so draus macht. Ich werde mir die nächsten Tage sehr genau überlegen, welches Essen ich bestelle. Ich kaufe meine üblichen Snacks und Getränke. Auch sonst kauft niemand unübliche Mengen. Das ist ein sehr gutes Zeichen. Wenn die Bevölkerung mit Hamsterkäufen beginnt, wird’s richtig schwierig, dann kann es sehr lange dauern, bis alles wieder wie gewohnt funktioniert.
Zurück im Zimmer rechne ich nach, wie knapp das jetzt war. Am Ende stehen 347 km auf dem Tageskilometerzähler.

Dazu kommen noch die Kilometer von der Tankstelle zum Hotel gestern, 12 an der Zahl: Insgesamt bin ich mit einem Tank also 359,8 km gefahren. Wenn in der Flasche vom freundlichen Helfer 0,2 Liter waren, und ich gestern wirklich voll getankt habe, dann waren das 18,2 Liter. Mein Durchschnittsverbrauch bei der MT-09 sind 5,5 Liter/100 km. 18,2 Liter auf 359 km Strecke ergibt 5,07 Liter/100 km Verbrauch – das sind 0,43 weniger als sonst, obwohl ich den größten Teil völlig normal gefahren bin. 18,2 Liter bei 5,5 Liter/100 km Verbrauch sind 331 km Reichweite – da bin ich 29 km drüber. Fazit: Üfff! Und ohne das eher zufällige Wendemanöver am Puerto de Enix wäre es noch knapper bzw. unmöglich gewesen.
Ich hoffe, dass morgen früh der Strom landesweit wieder hergestellt ist, und dass die Bevölkerung nicht anfängt, Benzin zu horten. Dann kann ich weiterfahren. Ansonsten wäre das hier auch OK für einen Ruhetag wider Willen. Bei einem Spaziergang ums Hotel sehe ich eine Wandklappe, da kommen die Abgase des Generators raus.

Die Tür zum Keller steht offen, ich kann die Anlage sehen. Okay, das sollte eine Weile reichen, wenn sie voll ist, und nicht geplündert wird. Dafür sollte man wohl besser die Tür schließen.
Wenn mitten in der Nacht der Strom zurück kommt, könnte ich vielleicht schon tanken. Es sind zwei Automatentankstellen direkt nebenan. Allerdings brauchen die nicht nur Strom, sondern auch ein Karten-Zahlungssystem, und das braucht funktionierende Kommunikation. Vielleicht muss auch ein Techniker kommen, und die Anlage wieder in Betrieb nehmen. Das Handynetz wackelt inzwischen deutlich. Die Infrastruktur dahinter hat ja auch keinen Strom, und wenn jetzt ganz Spanien abends nach Hause kommt, sieht, dass Festnetz nicht geht und dann über Mobilfunk Netflix gucken will, dann wird’s ganz schön eng. Und wenn jeder jeden anruft, am besten mit Video. Das haben sich wohl auch die Netzbetreiber gedacht, darum gehen seit 21:00 nur noch Notrufe. Leider erhält man null Information dazu. Cell Broadcast zur Katastrophenwarnung wäre doch dafür gut zu gebrauchen. Deswegen gibt’s diesen Bericht jetzt erst sehr spät.
Richtig schön wäre jetzt eine Online-Karte, welche Tankstellen tatsächlich Benzin verkaufen. Wer sowas findet, bitte hier posten.
Auf den Nachthimmel bin ich ebenfalls gespannt, so ganz ohne Lichtverschmutzung. Ansonsten bin ich offline und kann nur den Fernseher am Hotelzimmer nutzen – der kann aber nur spanisch, und da verstehe ich nur spanisch. Im Notfall rächt es sich doch, wenn man die Sprache kaum kann.
Update 7:00 - das Handynetz ist wieder da, das Festnetz nicht. Laut BBC sind 90% des Stromnetzes in Spanien wieder in Betrieb. Im Fernsehen kommt nichts mehr zum Thema. Krise vorbei? Ich werde nach dem Frühstück die beiden nächsten Tankstellen anwandern, ob die Sprit verkaufen. Vielleicht gleich mit einer Flasche, damit ich auf dem Weg dorthin nicht schieben muss.